03.12.2010

Zur Rechtmäßigkeit von Ordnungsrufen gegen Abgeordnete der NPD-Fraktion

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In drei Organstreitverfahren entschied der Verfassungsgerichtshof jeweils mit Urteil vom heutigen Tag über die Rechtsmäßigkeit der gegen die jeweiligen Antragsteller ausgesprochenen Ordnungsrufe...

In drei Organstreitverfahren entschied der Verfassungsgerichtshof jeweils mit Urteil vom heutigen Tag über die Rechtsmäßigkeit der gegen die jeweiligen Antragsteller ausgesprochenen Ordnungsrufe.
 
Im Verfahren des Landtagsabgeordneten Winfried Petzold stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass der Präsident des Sächsischen Landtags den Antragsteller durch die Erteilung eines Ordnungsrufes in der Sitzung des Sächsischen Landtags vom 12. November 2009 in seinen Rechten aus Art. 39 Abs.3 SächsVerf verletzte. Die Anträge der Landtagsabgeordneten Andreas Storr und Holger Apfel gegen die in der Landtagssitzung am 20. Januar 2010 ergangenen Ordnungsrufe hatten keinen Erfolg.
 
Zur Begründung führte der Verfassungsgerichtshof aus:
 
Maßstab für eine mögliche Verletzung von Rechten der Antragsteller könnten allein die sich aus Art. 39 Abs.3 SächsVerf ergebenden Statusrechte – hier das Rederecht – sein.
Das Rederecht des Abgeordneten werde durch andere Güter von Verfassungsrang begrenzt und erfahre seine nähere Ausgestaltung durch die Geschäftsordnung des Landtags. Die Geschäftsordnung schaffe den notwendigen Rahmen für die geordnete Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte und sichere damit die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Diesem Zweck diene auch das Instrumentarium der sich aus der Geschäftsordnung ergebenden Ordnungsmaßnahmen. Dabei obliege es der Gestaltungsbefugnis des Landtags im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie zu entscheiden, welche Ordnungsmaßnahmen unter welchen Voraussetzungen eingesetzt werden könnten. Grenzen der Regelungsmacht des Landtags folgten u.a. aus den Statusrechten der Abgeordneten.
Im Hinblick auf die Bedeutung des Rederechts des Abgeordneten für die Demokratie und die Funktionsfähigkeit des Parlaments könnten die dem Landtagspräsidenten an die Hand gegebenen Ordnungsmittel nicht dazu dienen, bestimmte inhaltliche Positionen aus der parlamentarischen Debatte auszuschließen. Sie dienten auch nicht der Sicherung eines gesellschaftlichen Konsenses. Das Parlament sei insoweit auch Ort der Darstellung von Positionen von Minderheiten. Diese sei solange hinzunehmen, wie sie nicht in einer Weise geschehe, die die parlamentarische Ordnung verletze.  Dies sei dann der Fall, wenn es sich nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung handele, sondern eine bloße Provokation, die Herabwürdigung Anderer oder die Verletzung von Rechtsgütern Dritter im Vordergrund stehe. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung in der Parlamentsdebatte im Vordergrund stehe und je intensiver die politische Auseinandersetzung geführt werde, desto eher müssten konkurrierende Rechtsgüter hinter dem Rederecht zurück stehen. Sofern Redebeiträge verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffneten, dürfe nicht von vorneherein eine Deutung zugrunde gelegt werden, die Ordnungsmaßnahmen rechtfertige, wenn auch andere Deutungen möglich seien.
Bei der Anwendung der Ordnungsmaßnahmen komme dem Landtagspräsidenten ein durch den Verfassungsgerichtshof zu respektierender Beurteilungsspielraum zu. Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte sei umso intensiver, je deutlicher der Ordnungsruf auf den Inhalt und nicht auf das Verhalten des Abgeordneten reagiere.

An diesen Grundsätzen gemessen, hatte der Antrag des Landtagsabgeordneten Petzold Erfolg. Die von ihm verwendete Formulierung „anglo-amerikanischer Vernichtungsexzess“ im Kontext seiner Rede zu dem Entwurf eines Sächsischen Versammlungsgesetzes sei insgesamt eine inhaltlich politische Stellungnahme. Eine Beeinträchtigung konkurrierender Verfassungsgüter von erheblichem Gewicht, die einen Ordnungsruf gerechtfertigt hätte, sei in diesem Fall nicht erkennbar. Die Annahme der seinerzeit amtierenden Vizepräsidentin des Landtags, die beanstandete Formulierung sei eine Relativierung des Holocaust, finde in der konkreten Rede des Antragstellers keine Stütze
 
Bei den Äußerungen der Landtagsabgeordneten Apfel und Storr, die  u.a. von „hassgeifernden, entkultivierten Antimenschen“ bzw. von „renitenten Denkgegnern“, „dauerpubertierenden Antifaschisten“ und von „Gesindel“ mit „geistig-seelischen Mängel(n)“ gesprochen hat-ten,  stehe hingegen zweifellos die Herabwürdigung Anderer im Vordergrund.  Mit den von ihnen gewählten Formulierungen sprächen sie den jeweils bezeichneten Personen die Qualität als gleichwertige Persönlichkeiten ab und verletzten diese dadurch in ihrer Menschenwürde. Aufgrund des damit einhergehenden Verstoßes gegen die parlamentarische Ordnung seien die Ordnungsrufe jeweils berechtigt.
 
SächsVerfGH, Urteile vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10, Vf. 16-I-10, Vf. 17-I-10

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